(Outside-)Flaneur: „Geisterbahnhöfe“? Eine offene Ausstellung klärt auf

"Geisterbahnhöfe“ Eine offene Ausstellung klärt auf

Licht ins Dunkle zu der Tragik-Kuriosität der Geisterbahnhöfe in den unterirdischen Grenzbereichen des geteilten Berlins bringt die frei zugängliche Fotografie- und Dokumentationsausstellung im Nordbahnhof. „Letzter Bahnhof in Berlin West!“, lautete die Durchsage, wenn Fahrgäste zwischen 1961 und 1989 Ost-Berlin unterquerten. Die drei U- und S-Bahnen-Linien im West-West-Verkehr (heutige U-Bahn-Linien 6 und 8 sowie die Nord-Süd-Bahn der S-Bahn) hielten nicht mehr auf den verwaisten Bahnhöfen in Ost-Berlin und konnten von dort aus auch nicht benutzt werden. Zugleich boten diese Grenzbahnhöfe Fluchtpotenzial und führten zur perfekten Perfidie der Grenzsicherung. Detektivisch können wir Besuchende anhand von Einzelschicksalen miss- und gelungene Grenzüberschreitungen nachvollziehen…

Der Nordbahnhof befindet sich unweit der ebenso flanierwürdigen Außenraum-Ausstellung der Gedenkstätte Berliner Mauer zur Teilung der Stadt, damaligen Fluchtbewegungen und dem alltäglichen Leben mit den Grenzsperranlagen (Bernauer Straße). Im Zwischengeschoss des Bahnhofs dokumentiert eine Foto-Ausstellung, was früher unterirdisch geschah. Da diese Transitstrecke unter dem sowjetischen Sektor für West-Berlin unverzichtbar war, fuhren ab 13. August 1961 Bahnzüge aus dem Westnetz ohne Halt unter Ost-Berlin hindurch, mit Ausnahme des Bahnhofs Friedrichstraße (Im S-Bahn-Museum gibt es weitere Infos: Bahnhof Friedrichstraße: Endstation). Nach dem Verschließen der Bahnhofszugänge der Stationen Potsdamer Platz, Unter den Linden, Oranienburger Straße und Nordbahnhof wurden selbige mit der Zeit immer schärfer bewacht.

© Blick in die Ausstellung „Grenz- und Geisterbahnhöfe im geteilten Berlin“ im Zwischengeschoss des Nordbahnhofs
© Blick in die Ausstellung „Grenz- und Geisterbahnhöfe im geteilten Berlin“ im Zwischengeschoss des Nordbahnhofs

Die bewaffneten DDR-Polizei- oder Grenzbeamten, die auf den geschlossenen, verwaisten Bahnhöfen standen, vermittelten den West-Berlinern in den Zügen das unheimliche Gefühl, sich unterirdisch auf fremdem Terrain zu bewegen. Dies spiegelt der Ausstellungstitel „Geisterbahnhöfe“ wider.

Im öffentlichen Bewusstsein der Ost-Berliner hingegen verschwanden die versperrten Bahnhöfe allmählich. Nur einige sahen hier tatsächlich Fluchtpotenzial. Vor allem unter den Grenzern selbst:

In der Nacht vom 27. zum 28. Dezember 1962 flüchtete der Gruppenführer Bodo Z. Nachdem er sich selbst für den Grenzposten am U-Bahnhof Walter-Ulbricht-Stadion (Schwartzkopfstraße heute) eingeteilt hatte, lief er gegen drei Uhr nachts los, längs des Bahnsteigs Richtung West-Berlin, bis er auf die Gleise sprang und nach 250m den Westsektor erreichte (hinter dem Grenzübergang Chausseestraße). Seine ‚Kollegen‘ hatten ihn überall gesucht – bis an die Demarkationslinie (s. Bild rot gestrichelt), die sie nicht überqueren durften. Als sie jedoch Fußspuren beim Notausstieg entdeckten, war Bodo Z. bereits durch das weggeschobene Gitter entwichen.

© Ausstellung „Grenz- und Geisterbahnhöfe im geteilten Berlin“ Tafel zur Flucht des Bodo Z. © Gedenkstätte Berliner Mauer
© Ausstellung „Grenz- und Geisterbahnhöfe im geteilten Berlin“
Tafel zur Flucht des Bodo Z. © Gedenkstätte Berliner Mauer

Angestellt bei der Ost-Berliner BVG gelang Dieter Wendt für seine und eine weitere Familie die Flucht 1980 mit einem komplizierteren Plan: Dafür ‚parkte‘ er die beiden Familien in einen sogenannten Waisentunnel der Linie 2, einen Verbindungstunnel, dessen Ausweg jedoch durch ein schweres Stahltor zum Schutz vor dem Wasser der Spree verschlossen war. Wendt wusste von einer Kammer über dem Tor, in die er die Fliehenden geleitete. Dann lief er bis zum Bahnhof Jannowitzbrücke, zu dem er als Streckenarbeiter Zugang hatte, weiter in den Tunnel der Linie 8, bis zum Stahltor, wo seine Familie wartete. Hier brach er von der anderen Seite die Tür zur Kammer auf, empfang seine Begleiter und hielt die nächste U8 an. Der Fahrer war sehr überrascht, versteckte die beiden Familien jedoch in der Fahrerkabine und brachte sie so nach West-Berlin.

Diese und weitere, weniger glückliche Geschichten erzählt die Ausstellung. Und wenn ihr wieder aus dem Bahnhof tretet, lauft doch die Bernauer Straße hoch, entlang der ehemaligen Mauer, …bis zum Mauerpark, wo es auf jeden Fall eine süße oder deftige Stärkung gibt.

Regentag-Tipp: Übrigens gibt es tolle Audioguides zu den verschiedenen Themen wie Grenzen, Schmuggel, Ausreise, Flucht, Überwachung, Devisen, Proteste und Mauerfall (in fünf Sprachen) hier: Haus der Geschichte AUDIOGUIDE: Tränenpalast

Ort: S-Bahnhof Nordbahnhof Berlin-Mitte, Eingang Gartenstraße, Zwischengeschoß. Eintritt frei, geöffnet während der Betriebszeiten des S-Bahnhofes.

Text/Fotos: Jana Noritsch

Veröffentlicht am: 21.05.2021 | Kategorie: Kultur - was sonst noch passiert, Kunst, Kunst - was sonst noch passiert, Redaktion-Tipp, | Tag: Kolumne Jana Noritsch,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert