Mosaik “Unser Leben” modern interpretiert

Wer in Berlin ein Stück DDR-Geschichte sehen, sich auf eine Zeitreise begeben will hin zu Pionieren, Stahlarbeitern und sozialistischer Propaganda, dem sei das Haus des Lehrers empfohlen. Dort lässt sich an dem außen angebrachten Mosaik “Neues Leben” von Walter Womacka ablesen, wie der Sozialismus sich selbst gern sah. Fortschrittlich, familiär, gemeinschaftlich, revolutionär. Und heute, 25 Jahre nach der DDR? Wie würde so ein Kunstwerk heute aussehen? Ganz ohne staatliche Auflagen? Diese Fragen stellte sich der Berliner Künstler und Autor Michael Wäser und übersetzte das Mosaik in Kleinstarbeit in unsere Zeit.

Das Ergebnis ist neben brilliant umgesetzter Satire vor allem eins: ebenso grotesk wie wahr. Statt staatlich verordneter Harmonie, übergestülpter Völkerfreundschaft und sozialistischem Realismus konfrontiert uns Michael Wäser alias Tyrz Kongo mit unserem Alltag. Schaut man sich seine Interpretation an, stellt sich dem Betrachter schnell die Frage, ob das Alte nicht besser war. Ob der von oben aufgedrückte Lebenssinn, das geregelte Sein nicht auch seine Vorteile hatte. Die Antwort hat uns die Wende gebracht und trotzdem kann man mit dem, was Wäser uns vor die Nase hält, kaum Frieden schließen. So witzig es daherkommt, so ernst ist es in jedem Detail. Wenn zum Beispiel die grundlegenden Fragen unserer Existenz, die auf dem Westfries des Mosaiks abgebildet sind, in Resignation von Lehrern, in Kindervergötterung und Pornobusiness enden und jeder weiß, dass das nicht realisischer Sozialismus, dafür aber umso mehr realistischer Kapitalismus ist, dann endet das Lächeln über die Groteske recht schnell. Wäser ist ein guter Beobachter, kein Umsetzer, wie Womacka, der nur Visionen oder Vorstellungen der DDR-Regierung in Bilder gefasst hat. Eher bringt Wäser schmerzhaft auf den Punkt, was jeder sieht, aber nicht sehen will.

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Natürlich will ich von ihm wissen, wie er auf die Idee gekommen ist, das Mosaik neu zu gestalten. “Der Ursprung war banal: ich wollte seit zehn Jahren schon “aktuelle” Bilder in dem Womacka-Stil machen, zum Beispiel statt Rechenschieber ein Handy. Das allein hat aber noch keinen Witz gehabt. Der hat sich erst ergeben, als ich mich Anfang dieses Jahres ernsthaft an die Arbeit machte. Da sind dann mehrere motivierende Dinge zusammengeflossen: Spott über Auswüchse im heutigen Berlin, im heutigen Leben in Deutschland, Lust an der Kraft der Ästhetik in Womackas Bildern, gleichzeitig an ihrem doppelbödigem Pathos, weil es ja eben auch Propaganda war. Das wollte ich benutzen und in seiner Wirkung umkehren und auf uns anwenden: Bild-Wirklichkeit, Wirklichkeit-Bild bzw. Text-Bild auf der website. Sie entsprechen einander nie, das war auch schon bei Womacka so. Erst mit der website wurde das Projekt dann komplett, weil sie ja in sich eine Eulenspiegelei ist, inklusive der Erfindung des Künstlers Kongo.”

Hier brennt der BER
Hier brennt der BER

 

Zirka fünf Monate hat Wäser inklusive Planung gebraucht, um die 800.000 Einzelteile digital zusammenzusetzen und im Womacka-Stil unsere Zeit, unser Leben abzubilden. Da das Original am Haus des Lehrers denkmalgeschützt ist, wird es wohl kaum zu einer Erneuerung kommen. Dafür kann man Wäsers “Berlin Mosaik” jederzeit im Internet betrachten und sich an dem Detailreichtum und der wirklich sehr gelungenen Auslegung erfreuen.

MICHAEL WÄSER

BERLIN MOSAIK

Veröffentlicht am: 30.11.2015 | Kategorie: Ausstellungen,

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