Ein Haus, geprägt von Licht und Linie, flüstert von Liebe und Deutung – dann tauchen Finger, Farbe, Schatten auf und erzählen von Besitz und Widerstand. In E-1027+123 verschränkt Stéphane Couturier das architektonische Manifest von Eileen Gray mit den widersprüchlichen Übergriffen Le Corbusiers. Seine Doppelbelichtungen legen die Spuren von Intimität, Konstruktion und politischer Geste übereinander – in einem Raum, in dem Architektur als Gedächtnis liest und übersetzt, nicht nur als Form.
Mit der Ausstellung E-1027+123 widmet sich Stéphane Couturier dem ikonischen Bauwerk der Architektin Eileen Gray. Mit der Villa E-1027 schuf sie nicht nur ein Haus, sondern ein Manifest der Moderne aus weiblicher Perspektive. Sie stellte ihre Entwürfe bewusst gegen die dominanten Ideen ihrer Zeit und zeigte, dass Architektur Intimität, Atmosphäre und Lebensqualität ebenso berücksichtigen kann wie formale Strenge.
Das zwischen 1926 und 1929 in Roquebrune-Cap-Martin entstandene Haus war Grays erstes großes architektonisches Projekt. Schon der Name trägt eine persönliche Botschaft: „E“ für Eileen, „10“ für J (Jean Badovici, ihr Partner), „2“ für B und „7“ für G (Gray). Dieses kryptische Monogramm zeigt, wie sehr das Bauwerk auch eine Liebeserklärung war.
Gray entwarf E-1027 als Gesamtkunstwerk, in dem Architektur, Möbel, Lampen und Textilien ein fein abgestimmtes Ganzes bildeten. Anders als Le Corbusier mit seiner Idee der „Wohnmaschine“ verstand sie das Haus als Wohnmuschel, als Schutzraum, der Offenheit und Geborgenheit zugleich bot.
Nach Grays Auszug nahm die Geschichte des Hauses jedoch eine Wendung. Le Corbusier, enger Freund von Badovici, verbrachte wiederholt Zeit in der Villa und bemalte zwischen 1937 und 1939 mehrere Wände mit großformatigen Fresken. Was er als künstlerischen Beitrag verstand, empfand Gray als Übergriff – eine Entstellung ihres Werkes, so sehr, dass sie E-1027 nie wieder betrat.
Stéphane Couturier: E-1027+123
Couturier greift diese Spannung auf und führt sie in seiner eigenen Bildsprache weiter. Mit der Technik der Doppelbelichtung, die analoge und digitale Verfahren verbindet, lässt er die klare Geometrie Grays und die expressiven Spuren Le Corbusiers aufeinandertreffen. Die Fotografien wirken wie vibrierende Schichtungen, in denen Realität und Abstraktion, Architektur und Intervention, Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen. Es entsteht eine Form von Hyperrealismus, die sowohl die Atmosphäre des Ortes einfängt als auch seine sozialen, politischen und künstlerischen Dimensionen sichtbar macht.
Die Ausstellung knüpft zugleich an Couturiers frühere Projekte an. Ob in den Industriebauten von Valenciennes, in Chandigarh – der utopischen Planstadt Le Corbusiers in Indien – oder in der monumentalen Wohnsiedlung Climat de France in Algier: stets betrachtet er Architektur als Spiegel gesellschaftlicher Zustände und Transformationen. Seine Werke zeigen, wie Gebäude von Leben, Umdeutung und Veränderung geprägt sind und so zu Resonanzräumen menschlicher Erfahrung werden.
Mit E-1027+123 führt Couturier diesen Ansatz weiter. Seine komplexen Bildwelten überlagern Geschichte und Gegenwart und erzählen weit mehr als nur von Form: Sie sprechen von Utopie, Erinnerung und davon, wie sich Architektur in seiner Arbeitsweise zu einem politischen wie poetischen Medium verwandelt.
Stéphane Couturier (*1957, Frankreich) zählt zu den wichtigsten Vertretern zeitgenössischer Fotografie. Seit den 1990er-Jahren erforscht er urbane Landschaften und Architekturprojekte weltweit. Seine Werke sind in bedeutenden Sammlungen wie dem Centre Pompidou, der Bibliothèque Nationale de France, der National Gallery of Art in Washington oder dem LACMA in Los Angeles vertreten. In den letzten Jahren wurden die Werke von Stéphane Couturier in bedeutenden internationalen Einzelausstellungen präsentiert. 2025 zeigte er unter dem Titel „E-1023+123 Eileen Gray/Le Corbusier“ in der Abbaye de Montmajour im Rahmen der Rencontres de la Photographie in Arles Werke, die nun auch in der Kornfeld Galerie Berlin zu sehen sind. Bereits 2023 widmete ihm das Jeu de Paume Le Cellier in Reims die Ausstellung „Construire par l’Image“. Auch in China fanden seine Werke große Beachtung: 2021 waren sie sowohl im Fusheng Museum in Wuhan als auch im Jupiter Museum in Shenzhen vertreten, wo die Serie „Melting Point“ gezeigt wurde. Im Jahr 2020 folgten „Entrelacements“ im Repaire Urbain, Artothèque in Angers sowie „Transmutations“ im Arendt House in Luxemburg. Einen besonderen Höhepunkt stellte bereits 2019 die umfassende Präsentation seiner Werke im Musée National Fernand Léger in Biot, Frankreich, dar.
Beitragsbild: Stéphane Couturier, série E-1027+123 – Villa Eileen Gray – #39, 2021-2022 C-Print, 110 x 139 cm
Stéphane Couturier: E-1027+123
31. Oktober 2025 – 10. Januar 2026


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