Zwischen Körnern und Kontinenten – Jeewi Lee und die faszinierende Welt des Sandes. Sand ist mehr als bloß Material – er ist Gedächtnis, Ressource und Spiegel unserer Welt. Jeewi Lees Ausstellung Field of Fragments in der Sexauer Gallery lädt dazu ein, Sand aus einem völlig neuen Blickwinkel zu erleben: als Gesamtkunstwerk und als intime Begegnung mit einem Stoff, der unsere Zivilisation trägt. Jedes Sandkorn erzählt Geschichten von Zeit und Raum, von menschlichem Eingriff und natürlichem Kreislauf. Die von Geometrie inspirierten Skulpturen und Bilder, entwickelt mit Phillip C. Reiner, lassen uns staunen über die Magie des Alltäglichen. Welche Geheimnisse verbergen sich in einem einzigen Sandkorn? Und was sagt es über uns aus, dass diese essenzielle Ressource bedroht ist?
Seit Jahren beschäftigt Jeewi Lee sich künstlerisch mit Spuren, verkörperten Erinnerungen und Phänomenen der Zeit, oft verbunden mit Naturprozessen. Vor einiger Zeit wandte Lee sich dem Bodenmaterial Sand zu. In ihrer Ausstellung Field of Fragments radikalisiert sie diesen Ansatz und zeigt eine Totalinstallation, welche die Besucherinnen makroskopisch und mikroskopisch mit jenem mineralisch-organischen Material bekannt macht, das uns allen so vertraut scheint, in Wirklichkeit aber voller Wunder ist. Lee zeigt Skulpturen und Bilder aus Sand, legt diesmal den Fokus aber auf einzelne Körner und deren erstaunlich unterschiedliche Formen.
Sand wird oft als belanglos betrachtet, ist jedoch eine der wichtigsten Ressourcen der Welt. Mit Sand wird Beton, Zement oder Glas hergestellt, ohne Sand also keine Straßen oder Städte. Sand wird zur Produktion von elektronischen Bauteilen genutzt, ohne Sand gäbe es keine Photovoltaik oder Microchips und keine künstliche Intelligenz. Mit Sand stellen wir Zahnpasta her, Jeans oder ganze Inseln. Jenseits dieser Nutzung durch den Menschen ist Sand aber auch ein wichtiger Speicher für Trinkwasser und ein Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten.
Zwar meinen wir alltagssprachlich, es gäbe einen Gegenstand so zahlreich wie Sand am Meer. Tatsächlich ist Sand aber mittlerweile zu einer knappen Ressource geworden. Weltweit werden jedes Jahr 50.000.000.000.000 Kilogramm abgebaut, in Worten: fünfzig Millarden Tonnen. Das entspricht vierzig Milliarden Autos. Dieser Abbau führt zu Umweltschäden, durch die ganze Landschaften und Ökosysteme zerstört werden können. Aber auch ein so zartes „Detail“ wie die Geschlechterverteilung von Schildkröten kann durch den Sandabbau aus dem Gleichgewicht gebracht werden, weil die Temperatur der Schildkrötennester beeinflusst wird und damit auch das Geschlecht der Schildkröten.
Sand besteht aus winzigen Teilen abgelagerten Gesteins. Durch tektonische Verschiebungen wird es an die Oberfläche gedrückt und einzelne Teilchen lösen sich. Diese als Körner bezeichnete Teilchen werden von Flüssen zum Meer geschwemmt. Wie winzige Skulpturen wird jedes Korn dabei geschliffen und geformt. An den Strand gespült, vermischt mit Kalk von Muscheln und Korallen, hat es eine Reise von tausenden Kilometern hinter sich. Manche Körner durchlaufen mehrere Zyklen der Ablagerung und Wanderung und können so bereits Milliarden Jahre alt sein, bevor wir am Strand für wenige Minuten unseren Abdruck im Sand hinterlassen.
Jedes einzelne Sandkorn trägt somit in sich unvorstellbar lange Zeitspannen, Strecken und Erinnerungen, die von Erdzeitaltern ebenso erzählen wie von Alltagskonsum, Kapitalismus und Migration. Sand ist wie eine flüssige Erde, ständig in Bewegung, immer im Fluss, bestehend aus Mineralien und Überbleibseln seiner Umgebung, jedes einzelne eine Verkörperung von Erinnerungen – “embodiment of memories”.
Die Faszination für Sand ist so alt, dass sie sich in unsere Sprache eingeschrieben hat: ein Haus ist auf Sand gebaut, ein Vorhaben verläuft im Sand. Die Zeit verrinnt uns wie Sand durch die Finger. Und mit deren Verrinnen verschwindet auch der Mensch – wie „am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ – so Foucaults berühmter Topos. Fast scheint es, als könnten wir in Field of Fragments von Jeewi Lee etwas von unserer verlorenen Zeit wiederfinden.
Jeewi Lee wird international ausgestellt. Sie hatte Einzelausstellungen in der Kunsthalle Recklinghausen und im Kunstverein in Hamburg. Ihre Arbeiten wurden in der Bundeskunsthalle gezeigt, im Gropius Bau Berlin, Kunstmuseum Wolfsburg, Museum für Gegenwartskunst Hamburger Bahnhof, Mönchehaus Museum, bei Urbane Künste Ruhr und im Kunstmuseum Stuttgart. Lee war Stipendiatin der Villa Romana und der Josef & Anni Albers Foundation. Sie erhielt den Villa Romana Preis, den Kunstpreis „junger westen“ und 2025 wird sie Fellow sein in der Villa Aurora in Los Angeles.
Die Skulpturen von Field of Fragments entwickelte Jeewi Lee in Zusammenarbeit mit dem Grundlagenforscher für Geometrie Phillip C. Reiner.
Jeewi Lee – Field of Fragments
Eröffnung am 22 November