Kolumne: Kunst als Spiegel

Jeannette Hagen für Kunstleben Berlin - Normadland

Kolumne von Jeannette Hagen. Vor ein paar Tagen habe ich endlich den Film „Nomadland“ gesehen – ein mit vielen Preisen ausgezeichnetes Roadmovie, das Fragen aufwirft, denen wir sonst ganz gern ausweichen: Was bedeutet uns Freiheit? Wie wichtig sind Beziehungen? Was ist Heimat? Wie geht man mit Trauer um? Und was brauche ich für mein ganz persönliches Glück? Einen Topflappen? Einen Dosenöffner? Ein Feuerzeug? Oder reicht mir der Anblick einer Kolonie Schwalben, die ihre Nester an einen Hang geklebt haben, um mein Leben als erfüllt zu sehen?

Ich habe hier an dieser Stelle schon oft über die Fähigkeit der Kunst geschrieben, Transformationsprozesse anzustoßen und ich bin immer wieder überwältigt, wenn es Künstler*innen mit einem Werk gelingt, Wachstums- oder Veränderungsprozesse in Gang zu setzen. Natürlich bleibt die Frage, woran sich das messen lässt. Ist es „das gute Gefühl“ mit dem ich den Kinosaal verlasse oder die Tatsache, dass ich heute, Tage später immer noch über einzelne Szenen nachdenke? Oder beginnt das Gelingen erst dort, wo ich nachdem ich ein Buch gelesen, ein Bild betrachtet, einen Film gesehen habe, aktiv etwas in meinem Leben verändere? Kannst Du konkret ein oder mehrere Kunstwerke benennen, die Dein Leben nachhaltig beeinflusst haben?

Wenn ich an Filme denke, fällt mir sofort „Rhythm is it“ ein. Der preisgekrönte deutsche Dokumentarfilm aus dem Jahr 2004 unter der Regie von Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch. Ich kann heute noch fühlen, was ich damals, als der Vorhang sich schloss, die Menschen im Kino aufstanden und klatschten, gefühlt habe. Und ich habe selten so viel über die Wirkung von Vertrauen, Disziplin, Bewegung und über die Arbeit mit Menschen gelernt. Werke wie dieser Film sind Sterne, die nie aufhören zu leuchten.

Nun haben es Filme, Bücher und Musik leichter, etwas in uns zu bewegen, als Malerei oder Bildhauerei. Aber auch hier lohnt es sich zu forschen, denn oft ist uns gar nicht bewusst, wie sehr der Anblick eines Bildes uns geprägt hat. Vielleicht erinnerst Du Dich, dass ich hier mal über das Schokoladenmädchen von Jean-Étienne Liotard geschrieben habe, das in jeden zweiten DDR-Wohnzimmer als Druck hing. Nicht, dass dieses Bild mein Leben radikal verändert hätte, aber es hat eine Spur gelegt, die sich in Form von einer großen Liebe zur Kunst bis heute durch mein Leben zieht.

In einem Interview, erschienen im Kunstforum, sagt der Gründer des Zentrums für Politische Schönheit, Philipp Ruch:

„Die Hoffnung auf den moralischen Fortschritt der Menschheit liegt in der Kunst.“

Das stimmt, denn Kunst hilft uns im besten Fall dabei, uns selbst kennenzulernen und nur, wer sich selbst kennt, ist in der Lage, sich bewusst zu verändern und sich neu zu entscheiden.

„Rhythm is it“ in der Arte Mediathek

Trailer „Nomadland“

Mehr über „Das Schokoladenmädchen“

Veröffentlicht am: 07.10.2021 | Kategorie: Ausstellungen, Gastbeitrag, Kolumne Jeannette Hagen, Redaktion-Tipp,

2 Meinungen zu “Kolumne: Kunst als Spiegel

  1. Rudolf Bernd sagt:

    Selten öffnet eine Kolumne mein Herz. Diese tut es – nur schade, dass sie nicht länger ist! Auch ich habe mich – obwohl begeisterter Cineast – lange vor diesem Film gedrückt, obwohl er von Anfang an auf meinem Radar war. Vor einigen Tagen habe ich es dann doch ganz spontan gewagt und eine große Bereicherung gewonnen. Der Film bewegt, er geht ans Herz, so man eines hat. Neben den von Jeanette Hagen angeführten Fragestellungen möchte ich eine nicht explizit erwähnte in den Raum stellen: was bedeutet es in einem reichen Land arm zu sein? Francis McDormand ist wieder einmal großartig in dieser schwierigen Rolle, der Film ist aber nicht sentimental, die Bilder einfach und eindrucksvoll. Sehenswert für Menschen, die noch nicht abgestumpft sind, animierend wie *Rhythm is it!* Kunst, die Kultur bewegt und Kultur ist das, was wir in Zeiten wie diesen mehr denn je brauchen, um unsere Zeit des Wandels konstruktiv zu bewältigen.

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